Von
Prof. Dr. Dr. med. Rolf
Dieter Hirsch, Chefarzt der Abteilung für Gerontopsychiatrie an der
Rheinischen Landesklinik Bonn und 1. Vorsitzender der Deutschen
Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie
Vorweg sei
betont, daß der Begriff „Altersdepression“ wissenschaftlich überholt
ist und allenfalls noch durch die Praxis geistert. Kein neueres
Diagnostik-Manual verwendet ihn mehr. Zwar gibt es einige
Besonderheiten von Depressionen, die im Alter vermehrt auftreten, wie
·
Fluktuationen,
·
somatische Symptome und
hypochondrische Befürchtungen,
·
Angst und klagsam-dysphorischer
Affekt,
·
kognitive Störungen und
·
paranoide Symptomatik.
Diese phänomenologischen Veränderungen
allein rechtfertigen es aber nicht, den Depressionen im Alter einen
Sonderstatus einzuräumen. Wie epidemiologische Untersuchungen zeigen,
ist auch die frühere Ansicht falsch, daß Depressionen altersabhängig
sind. Richtig ist vielmehr, daß Depressionen insbesondere in
Verbindung mit
·
chronischen Leiden (wie Parkinson,
Demenz, Schlaganfall)
·
Hilflosigkeit,
·
belastenden Lebensereignissen und
·
schweren Verlusten
auftreten und in dieser
Kombination teilweise drastisch zunehmen. Die genannten Probleme häufen
sich im höheren Alter und fördern damit die Vorstellung, daß es
sich bei den Depressionen ebenfalls um eine „Alterserscheinung“
handelt. Bei genauerer Betrachtung stellen sich die Depressionen dann
jedoch eher als Begleit- oder Folgeerkrankungen dar.
Gegen eine Sonderbehandlung der
Depressionen im Alter spricht auch, daß sie sich ähnlich erfolgreich
behandeln lassen wie Depressionen jüngerer Menschen. Dies gilt für
Arzneimittel- und Psychotherapie gleichermaßen. Erschwerend kommt
allerdings hinzu, daß sich bei älteren Menschen manche
depressionsbegünstigenden Faktoren weniger leicht beeinflussen lassen
(wie z.B. negative Lebensereignisse, fehlender sozialer Rückhalt,
zerebrale Probleme).
Die Frage „Lohnt sich die Behandlung
von Depressionen im Alter?“ ist bewußt provokativ. Sie zielt nicht
nur auf das Vorurteil ab, daß diese psychischen Erkrankungen
„normale Alterserscheinungen“ darstellen und deshalb hinzunehmen
sind. Zugleich thematisiert sie eine verbreitete resignative
Einstellung, die sowohl diagnostisch als auch therapeutisch die
Unterversorgung depressiver älterer Menschen begünstigt. So kommt es
zu der Diskrepanz, daß die Zahl diagnostizierter Depressionen im
Alter abnimmt, während die Häufigkeit depressiver Symptome
gleichzeitig zunimmt.
Paradoxerweise „lohnt“ sich die
Behandlung von Depressionen gerade bei multimorbiden älteren
Patienten besonders. Denn im Gegensatz zu vielen anderen oft
unheilbaren Leiden im Alter sind die Besserungsaussichten von
Depressionen vergleichsweise gut. Vor diesem Hintergrund ist der in
der Altersmedizin oft große Ermessenspielraum („Soll ich
behandeln?“) bei Depressionen eher klein. Auch unter humanitären
Gesichtspunkten „lohnt“ sich die Behandlung so gut wie immer: Denn
es ist bekannt, daß depressive ältere Patienten eine deutlich erhöhte
Sterblichkeit gegenüber gleichaltrigen Personen haben, selbst wenn
der Grad an körperlicher Komorbidität gleich ist.
Noch
sinnvoller als die Behandlung von Depressionen im Alter ist deren
Vorbeugung. Zu den beeinflußbaren Risikofaktoren dürfte die geringe
Wertschätzung älterer Menschen durch unsere Gesellschaft gehören.
Hier sind Präventivmaßnahmen denkbar, die die Betreffenden mehr in
die Gesellschaft einbinden und ihrer Vereinsamung vorbeugen. Eine
weitere Möglichkeit wäre die Gründung von geeigneten Krisen- und
Beratungsstellen für alte Menschen. Während es in Deutschland für
Kinder und Jugendliche rund 6.000 solcher Einrichtungen gibt, stehen
den Senioren nur ca. 40 vergleichbare Anlaufstellen zur Verfügung.
Alle Behandlungsmaßnahmen, inklusive der besten und preiswertesten
Arzneimittel, können solche präventiv wirksamen Angebote wohl kaum
ersetzen.
Nach
Beiträgen auf der 3. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für
Gerontopychiatrie und -psychotherapie 1997 in Kassel. Die Vorträge
sind zwischenzeitlich erschienen in: H. Radebold, R. D. Hirsch u.a.:
Depressionen im Alter. Steinkopff 1997. 330 Seiten. ISBN
3-7985-1089-X. 82 DM