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Artefaktkranke - Kinder depressiver Mütter?

Von Dr. med. Bertram von der Stein, Arzt für Psychiatrie/Psychotherapie  und Psychotherapeutische Medizin, Leitender Oberarzt der Klinik Wersbach, Leichlingen

    Unter Artefaktkrankheit versteht man heimlich durchgeführte Körpermanipulationen (wie Schnittverletzungen, künstlich herbeigeführte Entzündungen), deren Folgen als Eintrittskarte benutzt werden, um medizinische Hilfe zu erhalten. Ihnen ist gemeinsam, daß sie die Behandler meist vor Rätsel stellen, teilweise aber auch faszinieren, weil sie Tabus brechen und mit dem Tod spielen. Leider verläuft die Therapie oft sehr unbefriedigend.

    Versucht man, Gemeinsamkeiten in der Lebensgeschichte der Betroffenen herauszufinden, so begegnet man häufig folgenden Phänomenen: 1. Schon vor und bei der Geburt gab es Komplikationen, die auf eine schwierige Mutter-Kind-Beziehung hinweisen. 2. In einem Alter, in dem ihnen noch keine Sprache zur Verfügung stand, mangelte es den späteren Patienten an einfühlsamen Eltern. Diese vernachlässigten, mißhandelten und/oder mißbrauchten ihre Kinder, weil sie unter Depression, Sucht oder einer Persönlichkeitsstörung litten. Dabei besteht der „Mißbrauch“ oft darin, daß seelisch kranke Mütter ihre Kinder zur Selbststabilisierung benutzen und deren Bedürfnisse ignorieren. 3. Als Kinder hatten die Patienten keine Gelegenheit, einen gesunden Umgang mit Mehrpersonenbeziehungen zu erlernen, da die Beziehung der Eltern meist sehr gestört war (z.B. aufgrund einer Depression der Mutter). Mädchen bleiben dann auf den Vater fixiert, was einen sexuellen Mißbrauch und damit eine weitere schwere Grenzüberschreitung begünstigt.

     Vor diesem Hintergrund kann man das selbstschädigende Verhalten der Kranken als Reinszenierung ihrer frühen kindlichen Erfahrungen interpretieren: Sie gehen genau so gefühllos und grenzüberschreitend mit ihrem Körper um, wie sie früher als Kinder von den überforderten Eltern behandelt worden waren. Genau wie die damaligen Bezugspersonen mißbrauchen sie jetzt mitunter suchtartig selbst ihren Körper, um durch die aggressive Selbstverletzung (als Ventil oder Beruhigungsmittel) Spannung abzubauen. Durch ihr Handeln „zwingen“ sie die Helfer oft zu schädigendem Verhalten (wie unnötigen Operationen oder Röntgenuntersuchungen). Sie lassen diese erneut „Hand an sie legen“. Damit nötigen sie nicht nur die Helfer dazu, die Rolle der ehemaligen Peiniger zu übernehmen, zugleich reagieren sie auch auf die früheren Ohnmachtserfahrungen und Kränkungen, indem sie jetzt die Position des Mächtigen einnehmen (Stichwort „Koryphäenkiller“). Letzteres paßt zu dem als Folge von Vernachlässigung entwickelten Bestreben, möglichst unabhängig von der Zuwendung anderer zu werden. Die „bedürftigen Anteile“ werden jedoch nicht aufgegeben, sondern ganz in den Körper verlagert und dort ausgelebt.

    Therapeutisch besteht die Hauptaufgabe darin, eine Beziehung aufzubauen, was die Patienten bislang ja nicht befriedigend erfahren bzw. erlernt haben. Da Scham eine große Rolle für die Kranken spielt (oft sind es leistungsorientierte Angehörige medizinischer und paramedizinischer Berufe), ist es wichtig, sie schonend, mit ihrem Verhalten zu konfrontieren. Therapeuten müssen darauf achten. daß Täuschungen und Aggressionen der Patienten schnell zum Moralisieren verleiten und Haß auslösen können (wenn die Kranken Behandlungserfolge immer zunichte machen). Klare Grenzen sind dort zu setzen, wo bleibende Schäden oder ein Suizid drohen. Auch wenn Selbstbeschädigungen vorübergehend entlasten, handelt es sich doch um „fraktionierte Suizide“, deren Risikopotential ernst zu nehmen ist. Den Patienten müssen Alternativen zur Selbstschädigung aufgezeigt und Möglichkeiten des Sprechens anstelle des Handelns vermittelt werden. In ihren Körper, den sie bislang als nicht zu sich gehörig erlebt haben und oft nicht spüren (Depersonalisation), sollten sie schrittweise „einziehen“. Obwohl sich die Patienten bewußt selbst schädigen, darf man das Krankhafte ihres Handelns und damit ihr Recht auf die Patientenrolle nicht in Frage stellen. Insgesamt fallen zahlreiche Parallelen zur Depression auf (wie Autoaggression, Gefühllosigkeit und Beziehungsstörung). Letztere kennt ähnliche Entstehungsbedingungen (z.B. eine depressive Mutter) und ist daher differentialdiagnostisch immer zu erwägen.

Modifiziert nach einem Vortrag auf der Veranstaltung „Selbstbeschädigung - das unerkannte Krankheitsbild“ am 09.06.1998 in Leichlingen-Wi