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Demenz-Kranke durch zwischenmenschliche Beziehung „heilen“

Von Dipl.Theol. Christian Müller-Hergl, Supervisor, Paderborn

Alle Erkrankungen haben eine soziale Dimension. So hängt von gesellschaftlichen Faktoren ab, was als „Krankheit“ oder „Behinderung“ gilt bzw. wie auf diese Phänomene reagiert wird. Auch Bedeutung und Rolle des Kranken realisieren sich vor allem im sozialen Kontakt, wenn er erfährt, ob man in ihm den anonymen „Fall“ bzw. das „Problem“ („Demenz aus Zimmer 8“) oder die individuelle Person („Herrn Müller“) sieht. Da unsere Gesellschaft ihre (nützlichen) Mitglieder besonders durch Verstand und Arbeit definiert, werden Demenz-Betroffene selten als vollwertige Menschen wahrgenommen und behandelt. Trotz ihrer Beeinträchtigungen sollen sie sich in einer Welt zurechtfinden, die von den Vorstellungen und Regeln kognitiv gesunder arbeitender Menschen geprägt und in Form von Heimen oft als „Sonderwelt“ für Kranke konzipiert ist. Den Gestaltern und Betreibern dieser Welten ist selten bewußt, daß sie weniger die Patienten als die Gesellschaft „bedienen“. Sie übersehen, daß der Demenz-Kranke den Verlust seiner kognitiven Fähigkeiten sowie die Auflösung innerer und äußerer Strukturen als Ende seiner Personalität erlebt und darauf ähnlich wie auf drohenden Tod mit massiver Angst reagiert. Wenn der Demenz-Betroffene dann auch noch anonym behandelt wird und er sich der Verfügungsmacht anderer ausgeliefert fühlt, bestätigt sich die Berechtigung der Angst und nimmt ihr Ausmaß weiter zu. Manche „Verhaltensstörungen“ dementiell Erkrankter haben daher nicht nur biologische, sondern auch soziale Ursachen (insbesondere das Trio aus Angst + Anonymität + Macht). Die entsprechende Einsicht macht betroffenen, eröffnet gleichzeitig aber auch wirksame therapeutische Ansatzpunkte. Denn Art und Weise, wie man mit Demenz-Kranken umgeht, lassen sich im Prinzip leichter beeinflussen als die neuropathologischen Veränderungen im Gehirn.

    Auch das Wohlbefinden des Demenz-Kranken stützt sich auf mindestens vier elementare Säulen. Es handelt sich um die Gefühle

·      etwas wert zu sein

·      etwas tun zu können

·      mit anderen in Kontakt treten zu können

·      über Hoffnung und Urvertrauen zu verfügen.

Wer hier ansetzt und entsprechendes Erleben ermöglicht, kann auch Demenz-Kranke „wirksam“ behandeln. Allerdings bedarf es zu einer solchen „positiven Personenarbeit“ (nach Tom Kitwood) entsprechender Einstellungen und Bereitschaft beim Therapeuten. Dieser sollte

·      die eigene Beteiligung am Erkrankungsgeschehen erkennen (Stichworte: Demenz als „soziale Schwellenkrankheit“, Demenz als Problem aller und nicht nur des Kranken)

·      selbst mit Chaos und Zerfall klar kommen

·      im Patienten die Person und nicht die Demenz sehen, die Person anerkennen und würdigen

·      den Kranken ernst nehmen, seine Gefühle wertschätzen und selbst echt bleiben (dem Kranken also nichts vormachen!)

·      Pflege und ihre Qualität nicht als neutral und wertfrei, sondern als im wörtlichen Sinn wert-voll ansehen

·      mehr Wert auf den Erhalt der Person als auf den Erhalt von Funktionen legen

·      Funktionen für den Kranken übernehmen (wie Strukturierung, Haltvermittlung, Impulskontrolle) und diesem Dinge erleichtern und lustvoll gestalten, die er alleine nicht mehr herbeiführen kann (Facilitation)

·      sich gemeinsam („im Kontakt“) mit dem Kranken freuen, mit ihm spielen sowie feiern und zwecklos mit ihm zusammen sein können

·      zu „umgekehrter Psychotherapie“ in der Lage sein, die nicht auf Verselbständigung abzielt, sondern dem Kranken immer mehr Halt und Sicherheit gibt

·      einsehen, daß für jeden Kranken individuelle Wege und Lösungen gefunden werden müssen, weil es keine wirksamen Patentrezepte gibt.

Vor allem Sekundärsymptome der Demenz (wie Unruhe, Angst, Weglaufen, Apathie, Aggression, Schreien, Halluzinationen, Beziehungswahn) lassen sich durch eine gute Gestaltung der Beziehung zum Kranken günstig beeinflussen. Besonders hilfreich ist es, die Interaktion zwischen Demenz-Kranken und Betreuern exakt zu beobachten und zu beschreiben (insbesondere in Form des „Dementia Care Mapping“). So kommt man schmerzlich-peinlichen Details auf die Spur. Sie motivieren die Betreuer, sich bewußter mit dem Kranken und dem eigenen Verhalten auseinanderzusetzen und letzteres zu verändern. Erst die genaue Wahrnehmung des anderen fördert die Solidarität mit diesem.

Nach einem Vortrag auf dem 9. Fortbildungskongreß Geriatrie Praxis am 19. Juni 1998 in Neuss