¨
USA. Auf einen potentiellen
Jungbrunnen verweisen Studienergebnisse von B. W. J. H. Penninx und
Kollegen. Im Rahmen einer prospektiven Studie an 1.286 Personen im Alter
von mindestens 71 Jahren fand das internationale Wissenschaftlerteam
heraus, daß depressive Menschen offenbar rascher körperlich
„abbauen“ als nichtdepressive. Dieser Effekt scheint mit steigender
Symptomzahl ausgeprägter zu werden. Weitere Studien müssen nun zeigen,
ob sich die körperliche Leistungsfähigkeit erhalten läßt, indem man
depressive Symptome gezielt behandelt. Sollte dies der Fall sein, würde
sich damit eine wertvolle Möglichkeit eröffnen, „altersbedingten“
Leistungseinbußen kosteneffizient entgegen zu wirken.
Im Rahmen einer umfassenden epidemiologischen Studie hatten Dr.
Penninx und Kollegen ältere Menschen nicht nur mit Hilfe einer
Depressionsskala untersucht (CES-D = Center for Epidemiological Studies
Depression Scale); gleichzeitig hatten sie mit einem dreiteiligen Test
auch deren körperliche Leistungsfähigkeit beurteilt. Das
Instrumentarium interessierte sich für folgende Komponenten: 1.
Gleichgewichtsvermögen im Stehen, 2. erforderliche Zeit, um 2,4 Meter
zu gehen, und 3. erforderliche Zeit, um sich fünfmal von einem Stuhl zu
erheben und wieder hinzusetzen. Alle drei Ergebnisse flossen in einen
Gesamtwert ein. Nach vier Jahren wurden sämtliche Untersuchungen
wiederholt. Zu Beginn der Studie waren die Teilnehmer im Durchschnitt
77,7 Jahre alt, wobei die Frauen mit 69 Prozent die Mehrheit stellten.
10,7 Prozent der Teilnehmer waren deutlich depressiv (gemessen an
mindestens 20 Punkten auf der CES-D).
Besonders überraschte, daß depressive Symptome selbst
körperlich gesunde ältere Menschen dazu prädisponieren, rascher an
körperlicher Leistungsfähigkeit einzubüßen. Bei diesem Personenkreis
scheidet die Vermutung aus, daß ältere Menschen auf körperliche
Mängel depressiv reagieren (die Leistungseinbußen also Ursache und
nicht Folge einer Depression sind). Gleichzeitig verdeutlichen die
Studienergebnisse, daß schon eine relativ geringe depressive
Symptomatik von körperlichen Leistungseinbußen gefolgt ist.
Zu den Stärken der vorliegenden Untersuchung gehört, daß sie
die Leistungsfähigkeit objektiviert und sich nicht auf Angaben der
Studienteilnehmer verläßt. Denn depressive Menschen neigen dazu,
vieles negativ zu sehen und dementsprechend ihre körperliche Verfassung
besonders pessimistisch zu beschreiben. Da Depressionen die Tendenz
haben, sich zu verschlimmern, kann allein schon das Phänomen der
„schwarzen Brille“ dazu führen, daß die Betroffenen auch ihren
körperlichen Zustand immer dramatischer erleben und darstellen.
Insgesamt gehen die Autoren jedoch davon aus, daß sich depressive
Symptome und körperliche Verfassung gegenseitig („spiralförmig“)
beeinflussen und so das Gesamtbefinden immer mehr verschlechtern.
Der Einfluß depressiver Symptome auf die körperliche
Leistungsfähigkeiten läßt sich auf verschiedene Weise erklären: 1.
Es ist bekannt, daß sich seelische Belastungen u.a. hormonell und
immunologisch auswirken. In der Folge sind die Betroffenen dann oft
anfälliger für körperliche Erkrankungen. 2. Depressiven Menschen
fällt es schwer, für sich zu sorgen, so daß sie beispielsweise
wichtige Behandlungsmaßnahmen unterlassen und so Heilungsprozesse
erschweren. 3. Typische depressive Phänomene wie Müdigkeit und
Schlaflosigkeit wirken sich vermutlich auch auf den körperlichen
Zustand aus. 4. Zu den Verbindungsgliedern zwischen seelischem und
körperlichen Prozessen gehört nicht zuletzt, daß sich Depressive
körperlich weniger betätigen und so ihre Fitneß verlieren. Die
typischen kognitiven Verzerrungen Depressiver, wie eine Überbewertung
von Schmerz und Müdigkeit, können ebenfalls dazu beitragen, daß Lust
und Motivation sich zu bewegen schwinden. Wie die Autoren ausdrücklich
betonen, kann man die Zusammenhänge natürlich auch anders sehen: So
ist nicht auszuschließen, daß depressive Symptome erste
Anpassungserscheinungen an körperliche Veränderungen sind, die
klinisch vorerst noch nicht in Erscheinung treten.
Am interessantesten ist vermutlich die von der Studie
aufgeworfene Frage, inwieweit antidepressive Maßnahmen den drohenden
körperlichen Verfall depressiver älterer Menschen aufhalten können.
Denn im Gegensatz zu den meist chronischen körperlichen Erkrankungen
des Alters sind Depressionen potentiell veränderbar. Soweit in der
vorliegenden Untersuchung Antidepressiva eingenommen worden waren
(meistens Amitriptylin), ließen diese jedoch noch keinen Effekt
erkennen.
B.
W. J. H. Penninx u.a.: Depressive Symptoms and physical decline in
community-dwelling older persons. JAMA 1998 (279) 1720-1726