Von
Dr. med. Karin Bell, Fachärztin für Psychotherapie und Innere Medizin,
Psychoanalyse, Mitglied des Bundesausschusses „Psychotherapie“,
Mitglied im Fachausschuß Psychotherapie der KBV, Vorsitzende des
Berufsverbandes ärztlicher Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker
der DGPT, Köln
Mit einem Verhältnis von 2:1 kommen
Depressionen bei Frauen häufiger vor als bei Männern. Für dieses
Phänomen gibt es zahlreiche gängige Erklärungen, wie erbliche
Veranlagung,. hormonelle Faktoren, Erziehungs- und Umwelteinflüsse
sowie seelische Konflikte. Ein weiterer möglicher Zusammenhang findet
dagegen eher wenig Beachtung: Frauen sind in ihrem Leben verstärkt bzw.
in ganz anderer Weise als Männer mit depressionsfördernden
Übergangsphasen konfrontiert, wie
·
der Ablösung vom Elternhaus
·
der Geburt des ersten Kindes
·
dem Klimakterium.
In diesen Schwellensituationen
entstehen Konflikte, die sich um Trennung und Verlust drehen. Sie
betreffen Frauen in besonderem Maße und laden sie ein, depressiv zu
reagieren. Somit läßt sich das Überwiegen depressiver Erkrankungen
beim weiblichen Geschlecht auch damit erklären, daß Frauen teilweise
andere Lebensaufgaben zu bewältigen haben als Männern.
.Folgende Erläuterungen mögen dies verdeutlichen:
1.
Da Töchter mit ihren Müttern das Geschlecht teilen, sind sie
für deren Trennungs- und Verlustängste besonders sensibel. Sie
kämpfen mit der Frage, wie sie selbst eigenständig werden und im Leben
ihre Rolle als erwachsene Frau finden können, ohne dabei die Eltern und
hier speziell die Mutter zu verletzen. Wenn sie nicht Mut und Vertrauen
entwickeln, ihren eigenen Weg zu gehen, bleiben sie angepaßt und
aggressionsgehemmt, was sich dann im Bild einer lebenslangen Dysthymie
niederschlagen kann.
2.
Die Geburt des ersten Kindes stellt die Aufgabe, künftig eine
Mehrpersonen- anstelle der bisherigen Zweipersonenbeziehung zu führen.
Erneut geht es darum, eine Trennung zu bewältigen, diesmal aber mit dem
Ziel einen Dritten zu integrieren. Das gelingt am ehesten, wenn die
betreffende Frau als Kleinkind von ihrer eigenen Mutter aus der engen
Zweipersonen-Beziehung entlassen wurde und das Leben in
Mehrpersonen-Beziehungen erlernen konnte. Gerade depressive Mütter sind
jedoch kaum in der Lage, ihren Kindern Autonomie einzuräumen. Wenn ein
solches Kind dann selbst zur Mutter wird und möglicherweise sogar eine
Tochter zur Welt bringt, kommt es in ein doppeltes Dilemma, auf das es
nicht selten depressiv reagiert: Zum einen wird die jetzt junge Frau an
ihre eigenen Schwierigkeiten erinnert, als Kind selbständig zu werden;
zum anderen soll sie gleichzeitig in der Lage sein, nun der eigenen
Tochter den ihr selbst ehemals versperrten Weg zu ebnen.
3.
Im Klimakterium heißt es schließlich Abschied nehmen von
weiblichen körperlichen Funktionen sowie von gesellschaftlich
anerkannten Aufgaben, die für den bisherigen Lebensabschnitt typisch
waren (Kindererziehung). Sofern Frauen daraus überwiegend ihren
Selbstwert bezogen haben, droht jetzt eine Selbstwertkrise und mit ihr
eine Depression.
In allen drei genannten
Phasenübergängen fördern auch unerreichbare Idealvorstellungen (eine
vollkommene Mutter sein zu wollen) und ein strenges Gewissen (das
Bedürftigkeit und Selbstentfaltung verbietet) depressive Entwicklungen.
Als Lösungen können abschließend nur einige Ansätze
stichwortartig aufgezeigt werden. So erscheint es wichtig, Frauen ein
ausreichendes Maß an Aggression und Selbständigkeit einzuräumen und
sie in die Lage zu versetzen, mit „Trennungsschuld“ zu leben. Aus
gesellschaftlicher Sicht ist es wünschenswert, gängige weibliche
Ideale zu revidieren und das Selbstwerterleben von Frauen nicht
einseitig an Versorgungsfunktionen und körperliche Attraktivität zu
knüpfen.