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Angst und Depression: „Normalisierende“ Patienten erschweren Diagnostik

Großbritannien. Alle Experten sind sich einig, daß niedergelassene Ärzte viel zu selten „Depression“ und „Angst“ diagnostizieren. Möglicherweise liegt dies zu einem erheblichen Teil daran, daß die Ärzte die Krankheitsmodelle ihrer Patienten unreflektiert übernehmen. Eine Studie von D. Kessler und Kollegen zeigt nämlich, daß psychologisierende Patienten weitaus häufiger die Diagnosen Depression und Angst erhalten als Patienten, die ihre Beschwerden „normalisieren“. Darunter versteht man „gesunde“ Erklärungsweisen, die eine „Erschöpfung“ beispielsweise durch „ein Zuviel an Sport“ erklären würden. Eine psychologisierende Sichtweise würde dagegen mit einer „emotionalen Erschöpfung“ und ein somatisierender Ansatz mit einer „Anämie“ argumentieren. Während sich die Forschung bisher vor allem mit somatisierenden und psychologisierenden Krankheitsannahmen beschäftigte, blieben „normalisierende“ Sichtweisen und ihre Folgen weitgehend außer Betracht. Dabei sind sie in der Praxis und in der Bevölkerung vermutlich am weitesten verbreitet. Wie die britischen Wissenschaftler zeigen, verleiten Patienten durch normalisierende Darstellungen ihre Ärzte dazu, psychiatrische Diagnosen relativ selten in Erwägung zu ziehen.

     In ihrer Studie an 305 Patienten einer allgemeinärztlichen Praxis machte jeder zweite in einem vorab ausgefüllten Fragebogen Angaben, die auf seelische Probleme hindeuteten. Bei dieser Gruppe diagnostizierten die Hausärzte in der anschließenden Untersuchung aber nur bei 36 Prozent ein psychiatrisches Leiden (Depression: 19 Prozent, Angstleiden: 5 Prozent). Der Anteil korrekter Diagnosen variierte in Abhängigkeit von den Sichtweisen der Patienten: So erhielten von den seelisch leidenden „Normalisierern“ nur 15 Prozent eine psychiatrische Diagnose, während es bei den „Psychologisierern“ immerhin 62 Prozent waren. Die Art und Weise, wie Patienten ihre Symptome einordnen, wurde ebenfalls mit Hilfe eines Fragebogens vorab ermittelt. Die Ärzte kannten die Ergebnisse beider Fragebögen nicht.

   In einem kritischen Kommentar zu der Studie von Kessler und Kollegen fragt I. Heath, ob man normalisierenden Patienten hilft, wenn man ihnen psychiatrische Sichtweisen aufdrängt. Möglicherweise könnte es sich in diesen Fällen ja um besonders gutartige und sich „selbst heilende“ Depressionen und Ängste handeln.

 

Fazit für die Praxis: Achten Sie darauf, wie Ihre Patienten Symptome bewerten und ob Sie selbst diese Sichtweisen teilen. Nicht immer werden Sie Ihren Patienten einen Gefallen erweisen, wenn Sie deren Normalisierungen übernehmen. Bei seelischen Leiden dürfte die Tendenz besonders stark sein, sie durch Normalisieren zu Entpathologisieren.

 

D. Kessler u.a.: Cross sectional study of symptom attribution and recognition of depression and anxiety in primary care. Brit. Med. J. 1999 (18) 436-440; I. Heath: Commetary: There must be limits of the medicalisation of human distress. Birt. Med. J. 1999 (318) 439-440