Großbritannien. Nicht
„gedrückte Stimmung“, sondern das „Gefühl, krank zu sein“,
charakterisiert nach Ansicht von B. G. Charlton das Wesen einer
Depression. Denn deren typische Symptome beschreiben auch erstaunlich gut
das Krankheitsverhalten von Mensch und Tier. Insbesondere Müdigkeit,
Benommenheit, psychomotorische Verlangsamung, Lustlosigkeit und schwerfälliges
Denken sind keineswegs der Depression vorbehalten. Mehr oder weniger
ausgeprägt finden sie sich bei jeder körperlichen Erkrankung. Dort sind
sie durchaus vernünftige Anpassungsreaktionen, die es dem Organismus
erlauben, seine Energien auf die Lösung bzw. Abwehr des
Krankheitsgeschehens zu konzentrieren. Zum Problem werden sie erst dann,
wenn sie über den konkreten Anlass hinaus chronifizieren oder sich durch
einen Lernprozess mit negativen Gedanken verbinden, die dann ihrerseits
das Krankheitsgefühl aufrechterhalten. Vor allem wenn man nicht weiß,
dass man körperlich krank ist, besteht die Neigung, Konzentrationsstörungen,
Energie- und Motivationsmangel eigenem Versagen zuzuschreiben und dadurch
Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle zu entwickeln.
Da Antidepressiva das
Krankheitsgefühl nehmen, sollte man sie nach Ansicht Charltons eher als
„Analgetika“ betrachten und keinesfalls als „Happy Pills“: Sie
bessern nicht
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primär die Stimmung, sondern räumen ein
wesentliches (körperliches!) Hindernis für gutes Befinden aus dem Weg.
So mag sich auch erklären, warum Antidepressiva nicht euphorisieren oder
abhängig machen. In das Bild somatisch wirkender Substanzen passt, dass
Analgetika immer häufiger bei somatischen Indikationen erfolgreich
eingesetzt werden, etwa bei unterschiedlichen Formen des Schmerzes oder
chronischer Müdigkeit. Während sie dort oft rasch und mitunter bereits
in niedriger Dosis wirken, dauert es Wochen, bis sich auch die Stimmung
verbessert. Nach Ansicht Charltons braucht dies nicht zu verwundern, da
sich die Stimmung bei vielen Erkrankungen (etwa Grippe) erst nach längerer
Zeit ändert. Für den britischen Wissenschaftler hat die bisherige
Forschung im Falle der Depression das Pferd vom falschen Ende gesattelt:
Depression sei keine Erkrankung des Gehirns, sondern eine normale
Anpassungserscheinung auf körperliche Veränderungen. Antidepressiva würden
ihre Hauptwirkung peripher und nicht zentral entfalten. Sollte sich diese
These bestätigen, wäre es sinnvoll, den Effekt von Antidepressiva primär
am Schwinden des Krankheitsgefühls bzw. dessen Kernsymptomen zu messen.
Da diese Parameter in aller Regel rascher ansprechen als die Stimmung,
entfiele das bislang oft mehrwöchige Abwarten, um die Wirksamkeit eines
Antidepressivums sicher erkennen zu können.
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Für die These einer primär körperlichen
Auslösung zahlreicher Depressionen führt der Autor an, dass Depressionen
sehr häufig mit einer vermehrten Aktivität des Immunsystems einhergehen.
Letzteres reagiert auf „Fremdes“ (wie Infekterreger, Karzinome und
Autoimmunerkrankungen). Vermittler des Krankheitsgefühls sind Cytokine
(besonders bekannt als Interleukine und Interferone). In dieses Bild würde
passen, dass depressive Symptome typische Nebenwirkungen einer
Interferonbehandlung sind und als solche deren therapeutische Anwendung
limitieren.
Charlton weist darauf hin, dass
bereits Kurt Schneider die Wichtigkeit vitaler Symptome für die Diagnose
einer Depression betonte und dass moderne Theorien Emotionen nicht als primäre
Phänomene, sondern als kognitive Repräsentationen körperlicher Zustände
interpretieren. Der Autor räumt ein, dass seine These sicherlich nicht auf
alle Varianten von „Depression“ zutrifft. Sie bezieht sich vor allem auf
Depressionen, die sich durch körperliche Symptome und physiologische Veränderungen
auszeichnen, wie man sie bei körperlichen Krankheiten üblicherweise
findet.
B. G.
Charlton: The malaise theory of depression: major depressive disorder is
sickness behavior and antidepressants are analgesic. Medical Hypotheses 2000
(54) 126-130
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