Australien. Nach Ansicht
von G. Andrews sollte man Depressionen als „chronische Leiden“
betrachten. Eine solche Einstellung motiviert dazu, die mit großer
Wahrscheinlichkeit drohenden Rezidive „proaktiv“ zu beeinflussen.
Depressive Patienten sprechen zwar erfreulich gut
auf akute Behandlungen an, räumt Andrews ein. Langfristig ist die
Prognose jedoch ernüchternd: Nach 15 Jahren kann nur ein Fünftel der
Betroffenen über andauerndes gutes Befinden berichten. Drei Fünftel
haben nach ihrer „Heilung“ weitere depressive Phasen durchlebt. Das
verbleibende Fünftel umfasst Patienten, die sich selbst getötet haben
oder dauerhaft depressiv blieben. Enttäuschende Ergebnisse liefert auch
die Frage nach der „depressionsfreien“ Zeit, die Patienten nach ihrer
Erstbehandlung verbringen konnten. So wurden rund 60 Prozent der in den
letzten 12 Jahren verbrachten Wochen durch depressive Symptome getrübt.
15 Prozent der zurückliegenden Wochen erfüllten sogar alle Kriterien
einer Depression.
Die Depressionsbehandlung sieht sich nicht
nur mit häufigen Rezidiven konfrontiert. Es ist auch sehr schwierig, die
Effizienz der Therapie zu beurteilen. Denn Depressionen haben eine hohe
Spontanbesserungsquote. Befragt man Patienten mit chronisch
wiederkehrenden Depressionen nach ihrem aktuellen Befinden, dann liegen
bei weniger als der Hälfte der Interviewten im Monat der Befragung alle
typischen Symptome einer Depression vor.
Auch wenn viele Depressionen zeitlich
befristet zu sein scheinen bzw. auf akute Behandlungen sehr gut
ansprechen, ist dies kein Grund zum Optimismus, warnt Andrews. Denn die
Ernüchterung folgt in Form der nächsten Depression oft auf dem Fuß.
Befragt man Depressive im Alter zwischen 15 und 54 Jahren, wie oft sie
einen solchen Zustand bereits erlebt haben, dann ist es für 75 Prozent
der Patienten nicht das erste Mal. Im Durchschnitt hat jeder
Befragungsteilnehmer sogar schon 11 depressive Phasen durchlebt, die
zwischen zwei und 69 Wochen dauerten.
Diese Situation regt an, Depressionen vor
allem als chronisches Leiden zu betrachten und die Behandlungsstrategien
darauf auszurichten. Eigene Erfahrungen des Autors nehmen die Sorge, dass
sich das aktuelle Befinden der Patienten verschlechtert, wenn man die
langfristige Prognose anspricht. Eher das Gegenteil ist der Fall: Die
Patienten äußern, dass sie „erstmalig die Wichtigkeit der Behandlung
verstanden haben“, und ihre Compliance verbessert sich. Sollte man also
allen Patienten von vornherein klaren Wein einschenken oder sollte man
lieber das erste Rezidiv abwarten, um niemanden unnötig zu verunsichern?
Im letztgenannten Fall, wäre es wahrscheinlicher, dass die Betreffenden
zur Mehrheit derjenigen gehören, denen Depressionen „chronisch“
drohen. Nach Ansicht von Andrews ist diese Frage selten praktisch
relevant. Denn erfahrungsgemäß begeben sich viele Depressive nicht
sofort in Behandlung. Wenn sie sich erstmals zu einer Behandlung
durchringen, befinden sie sich oft schon in der dritten oder vierten
depressiven Phase.
Freimütig räumt der Autor ein, dass es
bislang keinerlei Studien gibt, die den Nutzen einer „proaktiven“
Behandlung depressiver Patienten belegen. Zumindest zeigen Erfahrungen bei
anderen chronischen Leiden (insbesondere Diabetes), dass präventive Maßnahmen
Langzeitkomplikationen verringern können. Warum sollte dies nicht auch für
Depressionen gelten? Da Depressionen weltweit die häufigste Einzelursache
von Behinderung sind, dürfte sich ein Versuch jedenfalls lohnen.
G.
Andrews: Should depression be managed as a chronic disease? BMJ 2001 (322)
419-421
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